Daheim spielte sich ein weiteres, entscheidendes Kapitel im Machtkampf der Religionen ab: Hussiten hatten versucht, an mehreren Stellen der Stadt Schwarzpulver zu zünden, damit in der Verwirrung des Brandes die Soldaten des böhmischen Königs in die Stadt einmarschieren könnten. Doch diese so genannte „Pulververschwörung“ wurde rechtzeitig entdeckt und vereitelt. Die als Rädelsführer ausgemachten Männer wurden zum Tode verurteilt, andere Mittäter der Stadt verwiesen. Niklas Horschel, der zu den Beschuldigten gehörte, kam zwar mit dem Leben davon, seine politische Karriere war jedoch beendet.
Die Familie Emmerich befand sich also in erstarkter Machtposition. Georgs „Fehltritt“ war gesühnt, er war wieder ein ehrenwerter Mann und heiratete die vermögende Barbara Knebel, mit der er neun Kinder bekam. Nach dem Tod seines Vaters wurde er zunächst Schöppe (Schöffe) und fünf Jahre später Bürgermeister von Görlitz. Dieses Amt hatte er sechsmal inne. Zudem betrieb er nicht nur umfangreichen Tuchhandel, der in Görlitz gerade seine Blütezeit erlebte, sondern handelte auch mit Getreide und Metall, womit er zum erfolgreichsten Kaufmann der Stadt wurde. Nach einigen Jahren gehörten ihm an die zwanzig Rittergüter und Dörfer in der Umgebung. Wohl ob dieser Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Macht, nannte Luther ihn einmal den „ungekrönten König von Görlitz“.
Nun fest wieder in seiner Heimatstadt etabliert, begann Emmerich, sich nach einem geeigneten Ort für den geplanten Nachbau des Heiligen Grabes umzusehen. Fündig wurde er im Nordwesten der Stadt: Außerhalb der Stadttore befand sich auf einem Hügel eine hölzerne Kapelle mit einem Friedhof für unehrenhaft Verstorbene, also Hingerichtete oder ungetaufte Kinder. Die Landschaftsgestalt glich der im Gelobten Land aufs Haar. Sogar der sich dort schlängelnde Bach mit Namen Lunitz erinnerte an den Bach Kidron. Und die Entfernung zur in der Stadt stehenden Peter- und Paulkirche betrug knapp 1000 Schritte - genau die Länge der Via Dolorosa, des Kreuzweges vom Pilatuspalast zum Berg Golgatha.
Hier ließ er ab 1481 ein zweites Heiliges Grab errichten, und zwar komplett mit maßgetreuen, wenn auch verkleinerten Kopien von Adams- und Golgathakapelle, Salbungskapelle, dem „Bach Kidron”, dem Ölberg und einer „Jüngerwiese“. Auch der Olivenhain Gethsemane wurde nicht vergessen.
DEM EDELN GEORG EMERICH RITTERN
WELCHER / DEMNACH ER MIT EINEM WERCKMEISTER UND SONST ZWEIEN GEFERTEN/
INS HEILIG LAND UND GEHN HIERUSALEM GEZOGEN: ALLDA ZUM RITTER
UBERM HEILIGEN GRABE / IM IAHR 1465/ DEN 11.IULII GESCHLAGEN WORDEN/
NACH VIEL ERLIETENER ZW LAND UND WASSER MUHE UND GEFAHR / DA ER
SOLCHE REYSE VERBRACHT UND ZW DEN SEYNEN BEI LEBEN SEINES HERRN
VATERN GLUCKLICH ANKOMEN / DIESE KIRCH ZUM H. CREUTZ UND HIERBEY
DAS H. GRAB / WIE ES DORT ABGERISSEN / IHME UND SEINEN NACHKOMEN ZUM
GEDECHTNUS AUFF SEINE UNKOSTEN ERBAWET/ UND HERNACH DIESER STADT
RHATSHERR BIS INN 36 IAHR FUNFFMAL BURGERMEISTER GEWESEN / ZW LETZT
IM IAHR 1507 DEN 21. IANUARII INN GOTT SEELIGLICH ENTSCHLAFFEN.
Knapp einhundert Jahre nachdem die Görlitzer Anlage fertig gestellt war, entstand bereits ihr erster Nachbau in Sagan (Zagan), weitere hundert Jahre später ein weiterer in Reichenberg (Liberec). Auch August den Starken hat dieses geschickte Gemengsel aus Stilelementen von romanischer, gotischer und maurischer Baugesinnung im 18. Jahrhundert so beeindruckt, dass er, nachdem er als August II. auch König von Polen geworden war, eine Kopie von dieser Kopie herstellen ließ: Für sein Warschauer Ujazdowski-Palais. Erhalten ist nur noch die Heilige-Grab-Kapelle in Sagan - und natürlich das „Original“ in Görlitz.
Die Kapelle zum Heiligen Kreuz besteht aus der unteren Adamskapelle, deren Name von der Legende herrührt, dass auf Golgatha das Kreuz Christi an genau der Stelle gestanden habe, an der Adam beerdigt worden war. Die bildhafte Symbolik soll zeigen, dass die Sünde des ersten Menschen durch den Tod Christi überwunden wurde. Gegenüber dem Eingang zieht sich - wie in der Grabeskirche in Jerusalem - ein Riss durch die Wand. Er erinnert an die Schilderung, die Matthäus von der Todesstunde Christi gegeben hat:
Über der Adamskapelle befindet sich die Golgathakapelle. Vor einem großen aber schlichten Kruzifix (das allerdings erst später aufgestellt wurde) befindet sich eine mit einem Bronzering versehene kreisrunde Vertiefung, die den Standort des Kreuzes Christi markiert. Daneben verläuft die Blutrinne, die sich in dem Riss der Adamskapelle fortsetzt. Wieder eine symbolische Darstellung: wurde doch in eine solche Rinne der übrig gebliebene Abendmahlswein gegossen, so floss hier also das Blut Christi direkt in das Grab Adams. Zwei weitere Vertiefungen stehen für die beiden Kreuze der Mitverurteilten. Einer ist durch die Blutrinne von Christus getrennt - offensichtlich der Verbrecher, der nicht bereit war, seine Sünden zu bereuen. Dazu passt auch die Geschichte von den drei Linden, die vor dieser Kapelle wuchsen: Die westliche verdorrte, und die Menschen glaubten, dass sie den links von Jesus gekreuzigten Spötter symbolisierte.
Das Heilige Grab, in einer Mischung aus maurischem und romanischem Stil erbaut, ist leer. Der Verschlussstein liegt einige Meter vor dem Grab, beiseite gewälzt, so wie er am Ostermorgen vorgefunden wurde. An den Vorraum schließt die Grabkammer an, ein kleiner schlichter Raum.
Zwischen dem Heiligen Grab und der Kapelle zum Heiligen Kreuz befindet sich das Salbhaus, darin eine Sandsteinplastik, geschaffen von Hans Olmützer. Sie stellt die Marienklage dar: Maria beweint den tot vor ihr liegenden Sohn.
Die Idee, nach der Rückkehr aus Jerusalem zu Hause ein Heiliges Grab zu errichten, war an sich nicht neu, sie war im Gegenteil sogar recht populär. Es gab jedoch verschiedene Formen der Ausführung. Als erster Nachbau entstand bereits 822 in Fulda die Michaelskapelle, ein zentraler Kirchenbau. In England und Frankreich wurden etwas später Kopien des Heiligen Grabes bevorzugt als Rotunden, also Rundbauten, errichtet. Es entstanden jedoch auch zahlreiche kleinere und damit sicher kostengünstigere Heilige Gräber, die in eine bestehende Kirche eingebaut wurden. So befindet sich in Konstanz im Münster Unserer Lieben Frau ein Heiliges Grab in der aus Sandstein gemauerten Mauritiusrotunde. Eines der ältesten noch existierenden Heiligen Gräber in Deutschland wird um 1200 datiert und befindet sich in der Stiftskirche St. Cyriakus zu Gernrode in Anhalt, hier handelt es sich um eine Grabanlage im Seitenschiff der Stiftskirche. Ab etwa Mitte des 14. Jahrhunderts erhielten auch Figurengruppen und Skulpturen, die meistens im Seitenschiff einer Kirche untergebracht waren, die Bezeichnung Heiliges Grab. So handelt es sich bei dem Heiligen Grab der St.-Albanus-Gemeinde in Diedorf im Eichsfeld um eine lebensgroße Darstellung der Grablegung Christi; das Heilige Grab in Chemnitz (heute im Schlossbergmuseum zu sehen) hingegen ist ein Prunkschrein aus der Zeit um 1500.
Doch egal welcher Gestalt, das Heilige Grab wurde in der Karwoche für die Aufführung liturgischer Osterspiele genutzt, um die Passion Christi bildhaft zu machen: Am Karfreitag wurde entweder die Christusfigur oder das gesamte Altarkreuz im Heiligen Grab „beigesetzt“, am Ostersonntag wurde es feierlich wieder entnommen, in einer Prozession dreimal um die Kirche getragen und anschließend wieder auf dem Altar installiert.
Das neue an Emmerichs Bau ist also nicht die Idee an sich, sondern ihre grandiose und detailgenaue Umsetzung. In Görlitz kann man heute noch auf einem der Steine ausruhen, die dem biblischen Bericht zufolge vor das Grab Jesu gewälzt worden waren und die bei dessen Auferstehung geborsten sein sollen - natürlich wiederum den Originalen in der Heiligen Stadt nachgebildet. In alten Zeiten gab es um die Osterzeit farbenfrohe Prozessionen, um das Heilige Grab zu ehren.
Der Enkel Georg Emmerichs ließ 1578 eine Gedenktafel mit folgendem Inhalt in der Kapelle zum Heiligen Kreuz aufstellen:
Das Heilige Grab
Salbhaus rechts im Bild
Im Inneren
Görlitz
Die Vorfälle im Hause Emmerich
Es hat alles mit dem Fehltritt eines Bürgermeistersohnes angefangen. Dieser Georg Emmerich kehrte nach dem Jurastudium in seine Heimatstadt Görlitz zurück. Dort kam er der Nachbarstochter Benigna Horschel näher - zu nahe, denn sie wurde schwanger. Ein Skandal, der vielleicht durch eine rasche Heirat noch zu mindern gewesen wäre, was die Eltern der Unglücklichen auch von der Familie Emmerich forderten. Doch erschwerend kam hinzu, dass die Familien unterschiedlichen religiösen und damit politischen Lagern angehörten. Der wohlhabende Tuchhändler und Bürgermeister Urban Emmerich war Katholik und Anhänger des katholischen Ungarnkönig Matthias I. Corvinus; Benignas Vater, der Ratsherr Niklas Horschel stand auf Seiten des böhmisch-hussitischen Königs Georg Boczko von Podiebrad und Kunstat. Nicht nur für die beiden Könige, die um die Vorherrschaft im Sechsstädtebund, zu dem Görlitz - zusammen mit Bautzen, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau - gehörte, rangelten, auch für die Familien ging es um Geld und Macht.
Ob es nun die Entscheidung von Vater Bürgermeister oder die des mit vierzig Jahren nicht mehr ganz jugendlichen Liebhabers selbst war, sei dahingestellt, die Forderung der Familie Horschel nach einer Eheschließung wurde jedenfalls rundweg abgelehnt. Die Folgen der Affäre waren natürlich bald nicht mehr zu übersehen, und als sie zum Stadtgespräch geworden war, sah Georg Emmerich sich gezwungen, zu reagieren. Er musste zugleich etwas Spektakuläres als “Sühne” unternehmen und Zeit gewinnen. Das rechte Mittel, beide Ziele zu erreichen, war damals, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, eine Pilgerfahrt ins Heilige Land.
Herr Emmerich brach also mit seinem Gefolge auf ins Morgenland. Er besuchte das Heilige Grab in Jerusalem und wurde dort 1465 zum Ritter des Heiligen Grabes geschlagen. Der Überlieferung nach waren seine Eindrücke so tief, dass er noch vor Ort einen spontanen Plan fasste. Er fertigte Zeichnungen von der Grabeskapelle, notierte ihre genauen Abmessungen und schrieb sich die Entfernungen der verschiedenen Stätten zueinander auf. Kurz gesagt, die gesamte Pilgerstätte wurde exakt vermessen.
Ortsansicht von Görlitz 1575, kolorierter Kupferstich von Frans Hogenberg
(Quelle: Wikipedia)
„Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten. Und die Erde erbebte, und die Felsen spalteten sich, und die Gräber taten sich auf.“
Die vier Stätten, die sich in Jerusalem in der Grabeskirche befinden, wurden hier unter freiem Himmel nachgebaut:
Man sieht, die Reputation der Familie Emmerich war bei den Bürgern wiederhergestellt. Der Herr Bürgermeister hat aber mit seinem Projekt nicht nur ein taktisches Meisterstück vollbracht, sondern auch eine Kulturtat: Das Heilige Grab zu Görlitz ist der erste allegorische Landschaftsgarten Deutschlands. Zum ersten Mal wurde ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das nicht nur Architektur und Skulptur, sondern zu dem bewusst gestaltete Landschaft einbezog. Und noch eine Einmaligkeit verdient Erwähnung: Dieser exakte Nachbau der Grabeskirche, die die Kreuzritter im Jahre 1099 nach der Einnahme Jerusalems errichtet hatten, hat überlebt. Das Original nahm schon im 16. Jahrhundert bei einem Brand Schaden und wurde nach einer weiteren Zerstörung Anfang des 19. Jahrhunderts in anderem Stil wieder errichtet.
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